Plünderungen in Südafrika

Nach der Verhaftung des früheren südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma am 7. Juli kam es in einzelnen Landesteilen zu Plünderungen. Missionar Christoph Weber (Durban) berichtet von den Hintergründen und ordnet das Geschehen ein.
Am 11. Juli sind wir noch gemütlich an der Durbaner Strandpromenade mit meiner Mutter spazieren gegangen. Auch dieses Mal freuten wir uns über die multikulturelle Menschenmenge, die friedlich und freundlich das wunderbare Winterwetter genoss.
Zwar waren schon in der Nacht vom 9. Juli 39 LKWs auf der Autobahn zwischen Durban und Johannesburg an einer Mautstation abgefackelt worden. Das war nicht das erste Mal, dass LKWs hier angegriffen wurden, aber offensichtlich war es der Anfang einer gezielten wirtschaftlichen Sabotage, die von der Regierung später als Aufstand deklariert wurde.
Auslöser war die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma, der wegen Missachtung des Verfassungsgerichts zu 15 Monaten Haft verurteilt wurde. Das Verfassungsgericht hatte ihn zwingen wollen, vor der Untersuchungs-Kommission auszusagen, durch die Korruption und sogenanntes „State Capture“ (Unterwanderung des Staates und der Staatsunternehmen) durch Zuma und seine Genossen während Zumas Präsidentschaft untersucht wird.* Zuma sollte sich der Polizei bis zum Sonntag, den 4. Juli stellen. Wenn er das nicht täte, sollte die Polizei ihn bis zum folgenden Mittwochabend festnehmen. Das waren bewegende Tage, als eine Menschenmenge vor seinem Haus ihn vor der Polizei schützen wollte. Es wurde immer schon mit einem Blutbad gedroht, wenn die Polizei es wagen würde, Zuma zu inhaftieren. Es dauerte auch bis kurz vor Mitternacht am Mittwochabend, bis Zuma von seinen Leibwachen zum Gefängnis gebracht wurde. Das ganze Land atmete auf und war erleichtert, dass Recht und Ordnung die Oberhand behalten hatten.
Manche behaupten jetzt, dass die Unterstützer von Zuma überrascht waren, dass Zuma dann tatsächlich inhaftiert wurde. Sie waren davon ausgegangen, dass seine letzten Versuche, per Gerichtsbeschluss die Inhaftierung zu umgehen, ihm noch etwas Zeit gekauft hätten. Aber dem war nicht so. Als am Freitag das Gericht in Pietermaritzburg seinen späten Antrag ablehnte, war dann für alle klar, dass Zuma erstmal im Gefängnis bleiben würde.
Sonntagnacht und dann Montag und Dienstag sind dann Menschenmengen zu Plünderungen losgezogen. In einem noch nie gesehen Ausmaß wurden große Einkaufszentren und dann später Lagerhallen und Verteilzentren geplündert. Meine Schwägerin Simone Weber war am Montag aus Deutschland zurückgekommen. Die normalen Autobahnen und Wege zum Flughafen waren gesperrt oder gefährlich. Ich bin dann über Schleichwege zum Flughafen gefahren, um Simone abzuholen. Alles war fast wie ausgestorben, aber an manchen Stellen, liefen Menschen von einem Plünderercamp in die Stadt und zurück. Die Leute, die aus der Stadt kamen, hatten geplündertes Zeug im Arm, und die in die Stadt liefen, hatten einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht, als wollten sie sagen: „Bitte lasst uns noch etwas“. Simone und ich meinten, es war in keiner Weise bedrohlich für uns, sondern eher wie eine Jahrmarktstimmung. Das soll aber nicht heißen, dass die Erfahrung für uns in diesen Tagen nicht traumatisch war.
Am Ende gab es etwa 220 Tote, aber nicht, weil die Menschen ausgezogen waren,um andere anzugreifen, sondern zumeist, weil sie sich bei den Plünderungen selbst verletzten oder im Gedränge verletzt wurden. Es sind aber auch vereinzelt Menschen umgekommen durch Schusswunden (Sicherheitsleute, Polizisten und Kinder). Denn es wurde auch schnell klar, dass kriminelle Gruppen sich der Gelegenheit bedienten und ihre skrupellose Gewaltbereitschaft offen zur Schau trugen. Viele Leute, die es sich leisten konnten, sind in diesen Tagen aus Durban geflohen.
Der Staat und die Verantwortlichen waren nicht vorbereitet und scheiterten auch in ihren Versuchen, die Plünderungen zu stoppen. Aber Polizei und Militär haben wohl auch schlimmeres verhindert, indem sie strategisch wichtige Orte vor einem Angriff geschützt haben. Womit wohl die Aufständischen nicht gerechnet hatten, ist, dass überall mit etwas Verzögerung, aber mit doch erstaunlicher Effizienz, Bürgerwachen sich spontan sammelten und organisierten und ihre Nachbarschaften abschotteten und beschützten. Überall entstanden ganz schnell WhatsApp Gruppen, oder dann auch über Telegram und Zello, und die Gesellschaft stellte sich gegen die Plünderer in den Wohngebieten. Hier sind die tollen Erfahrungen von Solidarität und Gemeinschaftssinn überall zu spüren, über Rassen- und Kulturgrenzen hinweg. Deswegen kippte auch die Stimmung gegen die Zuma-Leute sehr schnell, und außerhalb von KwaZulu-Natal — mit Ausnahme von bestimmten Gegenden in Johannesburg und Gauteng — wurde nicht geplündert.
Es dauerte leider sehr lange, bis die Regierung Militär einsetzen und die Situation stabilisieren konnte. Hier spielt die innere Zerrissenheit des ANC (Regierungspartei) eine große Rolle; aber auch die Jahre der Korruption und die Folgen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in unserem Land, die ja durch Corona nicht besser wurden. Unser Militär und die Polizei, wie alle Bereiche des Staates, haben extreme Sparmaßnahmen in den letzten Jahren hinnehmen müssen. Diese Sparmaßnahmen gehen nicht spurlos an den Behörden vorüber, und keiner kann erwarten, dass sie dann immer noch so einsatzbereit sind. Außerdem ist unser Militär schon durch die Einsätze im Kongo und jetzt in Mosambik als Teil der UNO und der Afrikanischen Union überstrapaziert.
Bürgerwachen sind in die Bresche gesprungen, aber hier liegt auch vielleicht ein Problem oder eine Gefahr für den Weg nach vorn. Die Polarisierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ist eine Gefahr, die gerade in Phoenix und Chatsworth drohte überzukochen. In Phoenix sind von den Wachen wohl 20 Menschen erschossen worden, als die in das Gebiet eindringen wollten. Viel sicherer und nachhaltiger sind die Erfahrungen, wo Menschen alle Gruppen integrieren und gemeinsam Lösungen suchen. Es ist kein „Wir“ gegen „Sie“ — wir sind nicht mehr in der Apartheidzeit, wo es um Schwarz gegen Weiß ging. Gerade die Taxi-Gesellschaften, die oft Auslöser von Gewalt und Unruhen sind, haben in dieser Zeit sich als Verteidiger der Gesellschaft gezeigt.
Das Vertrauen in die Regierung war, glaube ich, noch nie sehr hoch, aber ihre Glaubwürdigkeit hat noch mal einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Ein wichtiger Journalist hat geschrieben: „Gute Leute, ihr seid auf euch selbst angewiesen und könnt euch nicht auf den Staat verlassen.“ Aber, wie er bemerkte: „Gute Leute sind die Mehrzahl der Menschen in Südafrika.“
Eine Erklärung der Zurückhaltung der Polizei und Militär in den letzten Tagen könnte die kollektive Erinnerung an „Marikana“ sein: Am 16 August 2012 wurden während eines langen Streiks 34 Minenarbeiter von der Südafrikanischen Polizei erschossen. Damals war der jetzige Präsident Ramaphosa im Vorstand der Mine und hat wohl fürs harte Durchgreifen der Polizei plädiert. Vielleicht haben die Anstifter des Aufstandes in letzter Woche damit gerechnet, dass Ramaphosa wieder hart durchgreifen und die „einfache Bevölkerung“ beim Plündern erschießen lassen würde. Das wäre wohl sein politischer Selbstmord gewesen.
Polizei und Militär sind dabei, in großen Aktionen das Geplünderte wieder zurückzuholen. Viele Menschen bringen ihr geplündertes Zeug sogar selber wieder zurück, weil die Stimmung jetzt gegen sie kippt. In Sozialen Medien werden Leute auf Fotos und Videos identifiziert, an den Pranger gestellt — und bekommen manchmal Besuch von der Polizei. Die großen Geschäfte öffnen schnell wieder. Essen und andere Lebensmittel werden von anderen Regionen nach KwaZulu-Natal gefahren. Aber hier liegt auch ein Problem der Wahrnehmung: Die Leute denken und sagen zum Teil: Wenn es so leicht ist und so schnell geht, dass die Geschäfte wieder alles haben, dann ist es ja auch nicht so schlimm wenn wir stehlen. — Die vielen kleinen Händler und die vielen kleinen Betriebe, die werden sich nicht so schnell erholen, und viele werden ihre Arbeit verlieren. Große Firmen wie Toyota haben sich schon bei der Stadt Durban erkundigt, wie die Stadt plant, die Investitionen in Durban zu schützen. Unsicherheit und Angst könnten noch für lange Zeit Auswirkungen haben. Andere Standorte sind durch diese Situation sicherlich attraktiver geworden.
Das Schüren von Angst durch Soziale Medien ist ein echtes Problem für uns. Immer wieder versuche ich dagegen deutlich zu machen, dass es bei diesen Plünderungen keinen Hass oder Mordlust gab. Es war eher eine Jahrmarktstimmung — Leute sprachen davon, dass „heute Weihnachten“ ist. Damit will ich nicht herunterspielen oder bestreiten, dass dieses kurzsichtig und falsch ist – ja sogar Sünde.
Dass die Situation sich auch in der Zukunft nochmal zuspitzen und verändern könnte, ist leider auch wahr. Zuma ist immer noch im Gefängnis, und die Frage bleibt, ob Menschen sich nochmal aufmachen werden und Gewalt anwenden werden, um seine Befreiung zu fordern. Im Augenblick ist er ja erst wegen Missachtung des Gerichts im Gefängnis. Sicherlich wird er wegen Korruption und Diebstahl noch viel länger im Gefängnis sitzen.
Es gibt nicht nur einen Weg in die Zukunft. Wie Südafrika sich entwickeln wird, kann niemand mit Sicherheit sagen. Aber die Erfahrungen dieser letzten beiden Wochen werden wahrscheinlich ihren Platz in den zukünftigen Geschichtsbüchern von Südafrika finden. Ob hier ganz neue Weichen für unser Land gestellt wurden?